Eine dringliche Geschichte

von Klaus Wehr

 

Ein jung gebliebener älterer Herr schlendert durch das Einkaufszentrum einer Großen Kreisstadt. Ohne Hektik, ohne Ziel. Vor einem renommierten Modegeschäft bleibt er an einem Kleiderständer stehen und schaut nach einem Schnäppchen. Tatsächlich gefällt ihm ein Pulli. Er nimmt zwei Exemplare mit unterschiedlichen Größen vom Ständer und probiert sie im Modegeschäft an. Das passende Stück bringt eine junge Verkäuferin zur Kasse und der jung gebliebene ältere Herr sieht sich im Modegeschäft noch etwas um.

Ohne besonderen Anlass macht sich bei ihm ein leichtes Druckgefühl unterhalb des Magens bemerkbar. Er schätzt die Dringlichkeit zunächst nicht als dringend und plant den Druckausgleich für zuhause ein.

Jedoch erhöht sich der Druck ein klein wenig und er informiert sich bei einer Verkäuferin über die örtlichen Gegebenheiten. „Nach draußen, dann zwei mal links ums Eck“ ist die Antwort.

Eine neue Einschätzung der Lage veranlasst den jung gebliebenen älteren Herrn, dass er sich jetzt gleich an der Kasse anstellt, um den Pulli zu bezahlen. Anschließend will er die Örtlichkeit aufsuchen.

Während er wartet, bis er an der Reihe ist, ändert sich die Lage bzw. das Druckverhalten seines Körperteils aber abrupt. „Ich komme gleich wieder, ich muss nur mal kurz um die Ecke“ ruft er den Damen an der Kasse zu und eilt flugs von dannen.

Kaum hat er das erste Eck umrundet, ist das Ventil schon überfordert. Normalerweise ist der betroffene Körperteil auf eine relativ feste Substanz eingestellt. Doch da diese in fast flüssiger Form nach draussen drängt, versagt das Ventil seinen Dienst. Aufgerissene Augen und kleine Tippelschritte können den Overflow nicht verhindern.

Die Gedanken rasen durch das Hirn des jung gebliebenen älteren Herrn. Wie geht es weiter? Was ist zu tun?

Die nächste Ecke ist nun auch erreicht, aber die Schwerkraft nicht aufgehoben. Der Anblick der Türe und der Gedanke an die dahinter sich befindliche Sitzgelegenheit bewirkt, dass das Ventil seine Funktion nun völlig einstellt. Der jung gebliebene ältere Herr überwindet die letzen Hürden und sitzt endlich. Weitere Einzelheiten  sollen hier unveröffentlicht bleiben.

Nach den nötigsten Reinigungsarbeiten stellt sich der jung gebliebene ältere Herr die Frage „Wie komme ich nach Hause?“ Die Schuhe und Strümpfe blieben unversehrt und sauber. Aber ohne die unteren Kleidungsstücke wird es draußen sicher recht kühl werden. Es besteht also ein Notfall. Und Not macht bekanntlich erfinderisch.

Mit „Hallo!“ versucht er sich bei irgendjemand bemerkbar zu machen.

Tatsächlich ist durch eine geschlossene und eine leicht offen stehende Tür eine ganz zögerliche Frauenstimme zu hören: „Kann ich helfen?“ Der jung gebliebener älterer Herr erklärt kurz seine Lage und bittet die Frau, sie möge doch ins Modegeschäft nebenan gehen und bitten, dass ihm jemand eine billige Unterhose und eine billige Jogginghose bringen solle.

Da keine Antwort kommt, kann er nur hoffen, dass die Frau sich auf den Weg nach nebenan macht, um im Modegeschäft seine Bitte vorzutragen.

Natürlich gehen dem jung gebliebenen älteren Herrn wieder viele Gedanken durch den Kopf: Was, wenn die Frau nicht auf seine Bitte reagiert?  Wann sucht der nächste Kunde die Örtlichkeit auf?

Doch dann geht die äußere Tür auf und eine Frauenstimme erkundigt sich, welches Problem er denn hätte. Der jung gebliebene ältere Herr erklärt die Lage noch einmal und bittet um eine billige Unterhose und eine billige Jogginghose. Um die Seriosität seines Anliegens zu bekräftigen, reicht er der Dame seinen Personalausweis unter der Türe hindurch.

Welche Stille. Ohne Uhr und ohne Handy ist er irgendwie außerhalb dieser Welt.

Tatsächlich kommt die junge Dame wieder und gibt ihm unter der Türe hindurch seinen Ausweis wieder zurück. Aber mitgebracht hat sie nichts. Es sei nicht möglich, ihm die gewünschten Kleidungsstücke zu geben, da er kein Mitarbeiter des Modegeschäfts sei.

- Peng – ?

Eine Einkaufstüte aus Plastik mit dem Schriftzug des Modegeschäfts schwebt langsam von oben herab. Aufgebracht droht der jung gebliebene ältere Herr, dass er sich dann eben ohne Hose im Laden nach einer neuen umsehen würde.

Und nun? Guter Rat ist teuer. Er musst irgendwie zu einer Hose kommen. Da erinnert er sich an seine spontane Drohung von eben. Also nichts wie hin.

Er wiederholt das Reinigungsritual und verstaut die nicht mehr ganz frischen Kleidungsstücke in der Plastiktüte und diese im kleinen Rucksack. Das Hemd muss als Schürze herhalten. Allerdings reicht es nur, um die Schenkel von vorne und von der Seite zu bedecken. Für hinten reicht es nicht. Es ist eben kein Rundum-Sorglos-Paket.

So verlässt er seine Zelle, reinigt sich so gut es ging ein drittes Mal, nun mit etwas Seife, und macht sich auf den Weg ins Modegeschäft.

Er versucht, sich möglichst normal zu verhalten. Er fragt die erste Verkäuferin, ob er hier eine Jogginghose kaufen könne. Nein, Jogginghosen würden sie nicht führen. Also geht er zunächst zielstrebig zu der Abteilung mit der Unterwäsche. Er kennt sich ja aus. Da kommt ihm eine weitere Verkäuferin mit einer Unterhose in den Händen entgegen. Wurde er etwa schon erwartet? Er lässt die Dame aber stehen und sucht sich selbst eine Unterhose aus

 Ob und mit welchen Augen die Dame wohl diesem jung gebliebenen älteren Herrn hinterher schaut ?

Als er fündig wird bittet er eine andere Verkäuferin, das Preisschild abzumachen. Er will diese Unterhose ja gleich anziehen.

Auf dem Weg zu den Männerhosen kommt ihm noch eine Dame entgegen, die ihm eine Jogginghose anbietet. Sie sei extra ins Lager gelaufen um diese zu holen.

Der jung gebliebene ältere Herr hat aber kein Interesse mehr an einer Jogginghose. Wenn er schon persönlich da ist, kann er sich ja auch selbst eine bessere Hose aussuchen.

Ob und wie diese Dame wohl … ?

Bei den Jeans angekommen, begibt  er sich zunächst in die Umkleidekabine, um wenigsten die neue Unterhose anzuziehen. Nach zwei Anproben hat er auch schon eine passende Jeans gefunden. Auch von diesem Kleidungsstück wird nur das Preisschild an die Kasse gebracht. Die Hose behält er natürlich gleich an.

Er legt sich sein Hemd wieder in gewohnter Manier um und begibt sich zur Kasse.

Geduldig warte er bis er an der Reihe ist, nimmt seinen Pulli entgegen, bezahlt seine drei Kleidungsstücke und wünscht den Damen noch einen schönen Abend.

Den Heimweg kann er nun gelassen antreten, der Druck ist ja vorerst weg.