Anfang April 1995 war ich zum ersten Mal in Albanien. Unser albanischer Freund Agim hatte meine Frau Bettina und mich eingeladen, seine Heimat kennen zu lernen. In dieser einen Woche konnten wir viel von dem Land sehen. Mehr als mancher unserer albanischen Freunde in seinem ganzen Leben. Es störte mich nur, dass wir im Auto, also sitzend, das Land durchstreiften. Noch dazu in einem symbolträchtigen Mercedes! Unsere Gastgeber hatten erfolgreich verhindert, dass wir im Bus oder im Zug fuhren. Das wollten sie ihren Gästen aus dem reichen Deutschland einfach nicht zumuten.

 Beim Abschied versprach ich (oder besser: ich drohte an), dass ich beim nächsten Besuch zu Fuß durchs Land ziehen wolle. Das hatte unsere Freunde damals nicht gestört, da sie es sowieso nicht glaubten.

Die Zeit verstrich, und als ich definitiv eine Wanderung quer durch Mittelalbanien plante, wurde ich von Agim, der inzwischen wieder in Deutschland war, etwas belächelt. Als er jedoch erkannte, dass ich es ernst meinte, riet er mir dringend davon ab: Das sei viel zu gefährlich! Auch von deutschen Freunden und Bekannten wurde ich als überaus leichtsinnig eingestuft. Dennoch, an meinem Entschluss änderte sich nichts. Ich plante, zu Fuss von der Hafenstadt Durres bis nach Bilisht im Osten Albaniens zu laufen.

Als Reisezeit wählte ich den Mai 1996 und hoffte, dass es in Albanien noch nicht zu warm, aber der Schnee auf den Bergen schon getaut sein würde. Zur Vorbereitung ließ ich mir von Agim ein paar wichtige Sätze übersetzen. Ich notierte sie in einem kleinen Heftchen. Das war später eine wichtige Ergänzung zu Sprachführer und Wörterbuch. Als Kartengrundlage stand mir nur eine Straßenkarte im Maßstab 1:300.000 zur Verfügung. Dieselbe, die uns schon beim Besuch im vorhergehenden Jahr als Orientierung diente. Ich vergrößerte Ausschnitte daraus, schnitt sie in kleine handliche Teile und überzog diese mit einer Folie. Für die Anreise nach Albanien wählte ich die Bahn und das Schiff.

 

Endlich ist es soweit: Abends noch nach München, im Liegewagen nach Verona, dann über Venedig-Mestre bis Triest. Mit Sack und Pack (Rucksack und Tasche mit Geschenken und Verpflegung) schleppe ich mich ein paar hundert Meter vom Bahnhof zum Hafen. Marode Gebäude, alte LKWs, die etwas rauen Gesichter der auf die Fähre wartenden Albaner und schließlich das trübe Wetter erzeugen eine trübe Stimmung. Ich bin der einzige Tourist und werde argwöhnisch betrachtet. Albanien scheint schon nah zu sein. 24 Stunden dauert die Überfahrt mit der Fähre nach Durres. Genügend Zeit, um von der Hektik in Deutschland Abstand zu bekommen. Die ersten Kontakte mit heimkehrenden Albanern stimmen mich etwas auf das Land ein. Einer von ihnen porträtiert mich auf die Schnelle. Mit gebrochenem Deutsch und etwas Englisch verläuft die Verständigung ganz gut. Wieder höre ich warnende Worte. Sollte mein Vorhaben doch wirklich zu gefährlich sein?

 

Ich bin gespannt auf meine Ankunft in Durres. Es ist immer etwas Besonderes, wenn man per Schiff in einem im fremden Hafen eines fremden Landes ankommt. Wie leben die Menschen in den Häusern dort? Was essen sie gerade? Streiten sie sich? Oder gehen sie Hand in Hand spazieren? Sind die Schiffe im Hafen noch im Einsatz, oder liegen sie zum Abwracken bereit? Die Stimmung ist etwas bedrückend. Die Fähre legt am Abend an, und bis alle Formalitäten erledigt sind, ist es dunkel.

Die ersten Schritte wieder auf albanischem Boden unternehme ich mit gesenktem Kopf, damit ich nicht unnötig in eine der vielen Pfützen trete. Es hat am Tag geregnet und die Straßen und Wege sind seit dem letzten Jahr auch nicht besser geworden. Doch der herzliche Empfang, den mir Beni und Bujar bereiten, lässt alle Sorgen verfliegen. Beni ist der Bruder, Bujar der Schwager von Agim. Sie holen mich mit dem Auto ab. Beni schlängelt sich sehr souverän mit seinem klapprigen Peugeot um die Schlaglöcher herum, die ihm seit vielen Jahren vertraut sind. Sein ganzes Können stellt er dann in einer Seitenstraße unter Beweis. Hier wäre ein Geländewagen mit viel Bodenfreiheit von Nutzen. Die Straße führt zu seiner Wohnung. Die Scheinwerfer des Wagens leuchten uns den Weg zur Haustür, denn Strom gibt es erst in einer halben Stunde. Strom ist in Albanien an sich keine Mangelware. Auch Wasser gibt es viel im Land. Doch fehlt es an der Infrastruktur. Deshalb gibt es nur zu bestimmten Zeiten Strom und Wasser.

Diana, Benis Frau, empfängt uns mit einer Notlampe. Als später der Strom wieder da ist und die Lichter angehen, dauert es auch nicht lange, bis es Essen gibt. Denn Gastfreundschaft ist in Albanien etwas sehr Wichtiges, ja sogar etwas Elementares. In jedem Wohnzimmer gibt es Schlafmöglichkeiten und wenn die nicht ausreichen, dann schläft man eben auf dem Boden. Der Albaner stellt keine großen Ansprüche.

Die Unterhaltung ist am ersten Abend noch etwas schwierig. Meine Freunde können weder Englisch noch Deutsch, und ich kein Albanisch. So sitzen wir da und wälzen Sprachführer und Wörterbuch. Auf diese Weise werde ich in den darauffolgenden drei Wochen immer ein wenig mehr Albanisch lernen. Am nächsten Morgen schultere ich meinen Rucksack und mache mich auf den Weg.

Meine Karte ist natürlich sehr ungenau. Doch in Erinnerung an den Besuch im letzten Jahr kann ich mich noch ein wenig in der Stadt orientieren. Ich verlasse Durres auf der Ausfallstraße und biege dann nach rechts ab ans Meer. Und schon stoße ich auf die ersten Bunker. Die wurden gebaut, um Albanien vor Invasoren zu schützen. Etwa 700 Tausend sollen es sein. Die Albaner wären sie heute gerne wieder los. Aber sie scheinen für die Ewigkeit gebaut zu sein. Die Natur versucht geduldig, den Beton zu erobern. Ein findiger Kopf baut sein neues Restaurant um den Bunker herum.

Ich gehe am menschenleeren Strand entlang. Im Sommer soll hier die Hölle los sein. Ich laufe bis zum Hotel Adriatica, dem größten in Durres. Aus der Ferne gaukelt die weiße Fassade des Hotels etwas Luxus vor. Aus der Nähe betrachtet fällt aber die dürftige Ausstattung schon von außen auf: Die Farbe der Fassade ist nicht weiß, sondern eher grau, die Fenster wurden schon lange nicht mehr gestrichen und Vorhänge sehe ich auch keine. Sehr einladend sieht das Haus also auch nicht aus. Ob es überhaupt noch in Betrieb ist? Aber ich will sowieso nicht in Hotels schlafen, sondern in meinem Zelt, das ich mir extra für diese Tour gekauft habe.

Ich verlasse hier den Strand um dann senkrecht zur Küstenlinie ins Landesinnere zu laufen. Ich überquere die Straße und suche mir einen Weg zwischen Gärten und kleinen Häusern. Die Zufahrtswege zu den Häusern würden bei uns in Deutschland unter der Rubrik Baustraßen laufen. Hier und da wurde etwas Schutt verteilt, ansonsten sind sie unbefestigt und sehr uneben.

 Einzelne Häuser vermitteln mit ihren Gärten einen gemütlichen Eindruck. Vor einem sitzen ein paar Männer und bestaunen mich, rufen mir etwas Freundliches zu und ich winke zurück. Einer von ihnen, ein alter, halb Verwahrloster, läuft mir nach und bettelt mich an. Jedoch mit einem eher schelmenartigen Gesicht. Mit ernster Mine erwidere ich: „Io!“, d. h. „Nein!“. Mit ein paar gemurmelten Worten geht er wieder zurück zu den anderen, von denen er heftig beschimpft wird. Freundlich rufe ich ihnen zu: „Ska problem!“ („Kein Problem!“). Sie winken zurück und ich gehe weiter. Das ist eines der wenigen Male, die ich in Albanien angebettelt werde. Die Reaktion der anderen Männer zeigt, dass die Bettelei trotz aller Armut sehr verpönt ist. Doch ich will nicht die Armut und die Probleme der albanischen Städte sehen, sondern quer durchs Land laufen. Dort wird sich mir eine ganz andere Welt auftun.

Von der ersten Anhöhe habe ich einen weiten Blick zurück über die Häuser bis zum Meer. Dann geht es ins Landesinnere. Ein breiter Erdweg führt mich am letzten Haus vorbei. Er ist durch den Regen in der Nacht aufgeweicht. Ich versuche, am Wegrand so viel Gras wie möglich unter meine Füße zu bekommen. Auch hier draußen wird fleißig gebaut. Der Aufbruch in die Zukunft ist allgegenwärtig. Öffentliche Gebäude, wie z.B. Schulen, werden jedoch sicher noch länger auf eine Renovierung warten müssen.

 Ruhig ist es.  Bald erkenne ich, dass auf den Feldern noch sehr viel Handarbeit geleistet wird. Mensch und Tier tun sich schwer auf den schlechten Wegen. Neben Esel oder Maultier sind die Karosscas ein weit verbreitetes Transportmittel. Das sind gummibereifte, einachsige Wagen, die von einem Pferd gezogen werden. Die Männer, die so einen Wagen führen, tun dies oft auch stehend wie einst Ben Hur. Um die Mittagszeit lädt mich einer dieser Männer ein, auf seinem Wagen mitzufahren. Grundsätzlich bin ich ja zum Wandern unterwegs, aber in der Mittagshitze des ersten Tages nehme ich diese Einladung gerne an. Ich stemme meinen Rucksack auf den mit Säcken beladenen Wagen, besteige das Gefährt und setze mich über der Wagenachse dazu. Die beiden Männer vorne balancieren dabei ihr Gewicht so, dass das Pferd nicht mit der Deichsel hoch gehoben wird. Nach mühsamem Start geht es dann recht flott über die holprigen Wege. Das Tier tut mir leid. An einer Steigung müssen wir während der Fahrt absitzen und mit Hand anlegen, damit die Fuhre in Bewegung bleibt. Oben angekommen, nutze ich dann einen kurzen Halt, um meinen Rucksack herunterzuheben und zu Fuß weiterzugehen. Die Männer wünschen mir noch einen guten Weg und versuchen dann, ihr störrisches Pferd wieder in Bewegung zu bringen.

 Menschen winken mir oft zu oder bleiben auf ein paar Worte stehen. Ich lerne schnell die Art, wie man sich in Albanien begrüßt. Routiniert führe ich die linke Hand zum Herz und murmele dabei einige Worte, obwohl ich fast nichts von dem verstehe was mein Gegenüber mir sagt.

Die Lufttemperatur ist jetzt, Anfang Mai, nicht besonders hoch, aber die starke Sonneneinstrahlung heizt die Haut ordentlich auf. Etwas abseits vom Weg klappe ich mein Hockerchen auseinander und mache eine ausgiebige Rast. Gerne würde ich auch eine kleine Siesta halten, aber es ist kein geeigneter Baum in der Nähe, in dessen Schatten ich mich legen könnte. Mit dem Rücken zur Sonne ist es noch auszuhalten. Dennoch gestärkt und , ziehe ich nach einer Stunde weiter.

 An einer Weggabelung stößt ein Albaner zu mir, der ein Stück des Weges mit mir gehen will. Er hat ein altes Brett auf seiner Schulter. Eine wertvolle Fracht, denn Holz ist in dieser Gegend Mangelware. Wir kommen ins Gespräch – soweit meine Sprachkenntnisse es zulassen – und immer wieder bleibt er stehen, um mich staunend anzuschauen. Ich muss ein paar Schritte vorgehen, damit auch er weitergeht. Ich habe es zwar nicht eilig, aber ich will ja wandern und nicht bummeln. Die Unterhaltung kann nebenher laufen. Aber das ist der Mann nicht gewohnt. Als wir an einem Haus vorbeikommen, in dessen Garten ein Mann beschäftigt ist, verabschiedet sich mein Wegbegleiter freundlich, wünscht mir einen „guten Weg“ und beginnt die nächste Unterhaltung.

Nun kann ich wieder richtig ausschreiten. Die Felder sind groß. Manchmal bewacht von Bunkern. Jedes verfügbare Fleckchen Erde wird genutzt. Die meisten dieser Felder werden von Hand bestellt. Ganze Familien sind im Einsatz. In den Häusern bleiben nur noch die Kranken und Gebrechlichen. Die großen Kinder kümmern sich am Rande des Feldes um die Kleinsten oder lernen für die Schule. Natürlich ist ein Fremder mit einem großen Rucksack eine Sensation. Interessiert schauen die Leute nach mir und antworten freudig auf einen Wink.  Sie kommen sogar aus einiger Entfernung her, um mich zu begrüßen. Oder wollen, dass ich mich etwas zu ihnen setze, und bieten mir ein Milchgetränk an, das sie im Schatten eines Busches stehen haben. Das ist eine wohltuende Erfrischung! Trotz der geringen Verständigungsmöglichkeiten herrscht eine sehr freundliche Atmosphäre. Männer führen das Wort und kleine Mädchen kichern im Hintergrund. „Woher?" – "Wohin?" – "Warum zu Fuß?“ und vor Allem: „Warum alleine?“ sind fast immer die Fragen, die mir gestellt werden. Bald habe ich keine Schwierigkeiten mehr, diese Fragen zu beantworten. Es ist wie eine sich mehrmals wiederholende Lektion.

Auch diesen Kreis muss ich wieder verlassen. Es ist noch zu früh, um den Tag abzuschließen, obwohl ich von diesen Leuten eingeladen werde, bei ihnen zu übernachten. Ich will ja noch eine ganze Strecke weiter laufen.

 Es ist nicht mehr so warm und von der Höhe kann ich die Aussicht auf eine wunderschöne Landschaft genießen. Bald gesellt sich ein Junge zu mir, der etwas schüchterner im Gespräch, aber zügiger mit dem Laufen ist. Er zügelt seinen jugendlichen Elan, um in meiner Nähe zu sein. Wir wechseln nur wenige Worte. Als er sich wiederholt anbietet, meinen Rucksack ein Stück zu tragen, will ich es ihm nicht mehr abschlagen. Ich helfe ihm, das große Ding auf seinen Rücken zu bugsieren. Doch bald ist ihm das Gewicht zu groß und ich nehme ihm den Rucksack wieder ab. Respektvoll sieht er zu, wie ich die 25 kg mit Schwung schultere und munter drauf los marschiere. Er führt mich über steile Fußwege, die ich allein nicht finden würde. So komme ich recht gut voran, trotz aller Unterbrechungen.

Ich will noch die gegenüberliegende Höhe erklimmen und dort oben ein Plätzchen für die Nacht suchen. In einer kurzen Atempause geht mein Blick zurück . Im Gegenlicht sehe ich Bauern auf dem Heimweg. Ein anderer Bauer drängt mich, meinen Rucksack auf den Rücken seines Esels zu legen. Ich habe keine Chance, das abzulehnen. Das Reisig auf dem Rücken des Esels muss nun ein Junge tragen.

Während wir langsam hoch traben, unterhalten wir uns sehr angenehm. Nazmi heißt der Mann, und oben auf der Höhe in Shesh steht sein Haus. Bis wir oben sind, hat er mich so weit, dass ich seine Einladung zur Übernachtung annehme. Als wir ankommen, springt sein Sohn rasch ein paar Häuser weiter, um seine Mutter zu holen, die bei den Großeltern ist. Inzwischen wird das Futter und das Brennholz versorgt und der Esel im Stall abgestellt. Ich setze mich auf die Steintreppe vor dem Haus und lüfte erst einmal meine Füße. Nazmi bringt mir sofort einen kleinen Plastikkanister mit Wasser. Hier hat jedes Haus seine eigene Wasserversorgung, ohne zeitliche Einschränkung. Während ich meine Füße wasche, frische Strümpfe und die Sandalen aus dem Rucksack krame, kümmert sich Nazmi um Holz für den Herd. Und dann kommt auch schon die Frau des Hauses mit ihrer jungen Schwester. Auch ein Bruder von Nazmi, der Englisch sprechen kann, ist inzwischen eingetroffen,

 Nazmi zeigt mir das Zimmer, in dem ich und sein Bruder später schlafen sollen. Ich packe meinen Rucksack aus, wasche mich im Gang unterm Wasserhahn so gut es geht und ziehe frische Klamotten an. Sie warten im Wohnzimmer schon neugierig auf die weitere Unterhaltung. Es überrascht mich, dass ich in einem so entlegenen Dorf Leute treffe, die zwar lange von der weiten Welt abgeschottet waren, aber trotzdem den Eindruck vermitteln, dass sie über diese Welt Bescheid wissen. Bald merke ich, dass das Wissen doch nicht so groß ist, das Interesse, etwas zu erfahren, aber umso größer ist. Und mit Hilfe meiner Bücher klappt die Konversation so leidlich. Sie haben alle sehr viel Geduld.

Dann ist das Essen fertig. Die Bücher werden  weggeräumt und der kleine Tisch etwas mehr zu mir gedreht. Zuerst wird nur für den Gast aufgetragen: Brot, Suppe, Reis und Hähnchenfleisch. Dann auch noch Joghurt. Ich will warten, bis die anderen auch etwas haben. Aber man drängt mich, doch anzufangen. Unsicher beginne ich, die Suppe zu löffeln. Hunger habe ich ja schon. Nach einer Weile werden mehr Teller aufgetragen, allerdings nur für die Männer. Die Frauen sind in der Küche aktiv. Auch der Großvater kommt zu Besuch. Ich werde gedrängt, noch mehr zu essen, aber auch ein großer Hunger ist mal gestillt. Ein süßer Nachtisch rundet das Ganze ab.

 Nach ein paar Minuten kommt dann die Schwester der Frau mit einer Schüssel Wasser, einer Seife und einem Handtuch. Ich wundere mich im ersten Augenblick, dass man sich hier die Hände nach dem Essen am Tisch wäscht. Aber das Wasser ist nicht für die Hände! Sie stellt die Schale vor mir auf den Boden und krempelt mir meine Hosenbeine hoch. Jetzt ist mir klar, dass sie mir die Füße waschen will. Überrascht lasse ich es geschehen. Unsicher murmele ich auf Deutsch, dass ich die Füße doch schon vorhin gewaschen hätte, doch dann ahne ich, dass das ein Teil ihrer Tradition ist, und ich füge mich. Nach mir ist dann der Großvater an der Reihe. Sonst niemand mehr. Ich bin mir in diesem Augenblick nicht bewusst, welche Ehre das ist.

Die Unterhaltung wird dann in gewohnter Weise fortgesetzt, bis ich gefragt werde, ob ich müde sei. Ich antworte im ersten Moment höflich mit einem Nein. Bald ist mir aber klar, dass das ein kleiner Wink mit dem Zaunpfahl ist. Bei den Bauern hier ist es nicht üblich, dass sie sich die Nacht um die Ohren schlagen, denn sie müssen am nächsten Morgen wieder früh aufstehen und ihrer harten Arbeit nachgehen. Deshalb sage ich bald darauf von mir aus, dass ich schlafen gehen will. Müde bin ich ja wirklich. Und so ziehe ich mit Nazmis Bruder ins Zimmer nebenan, wo wir uns auf die mit Bettzeug gerichteten Sofas verteilen. Bevor ich einschlafe, lege ich die Strecke von Durres bis hierher nach Shesh noch einmal in Gedanken zurück. Der erste Tag in Albanien war sehr interessant. Ich habe fast nur sehr freundliche Leute getroffen und war keinerlei Gefahr ausgesetzt. Ich freue mich auf die nächsten zwei Wochen.

Ich schlafe sehr gut. Kein Straßenverkehr ist zu hören, keine laute Musik des Nachbarn, kein Wecker, kein Telefon und auch keine Kehrmaschine am Morgen. Kurz: Himmlische Ruhe. Um sechs Uhr ist dann die Nacht vorbei. Gemütlich sitzen wir wieder im Wohnzimmer und warten, bis das Frühstück fertig ist: Brot und Käse („bukë dhe djathë“), Joghurt, Eier und Tee.

 Ich dränge bald zum Aufbruch, sonst komme ich vielleicht vor lauter Geselligkeit erst spät weg. Vor dem Haus formieren wir uns zu einem Foto, und dann ist ein ausgedehnter Abschied fällig. Ich verspreche ihnen, auf jeden Fall ein Bild zu schicken. Nazmi begleitet mich noch durch das Dorf und auf den Bergrücke. Erst von hier oben erkenne ich, dass die Häuser durch den Berg ganz gut gegen den kalten Nordwind geschützt und frei zur Abendsonne ausgerichtet sind.

Nazmi erklärt mir, dass ich nur auf dem vor uns liegenden Weg zur Straße laufen soll. Denselben, den diese Bauern mit ihren Eseln gehen.  Doch ich will ja nicht zur Straße. Geduldig mache ich ihm nochmals deutlich, dass ich da gehen will, wo nur Mensch und Tier gehen können, möglichst geradewegs nach Tirana. Verwundert beschreibt er mir diesen Weg, der auch über einen vor uns liegenden Bergkamm langsam hinabführt. Nach einem Abschied mit vielen Umarmungen wartet er noch, ob ich auch den richtigen Weg finde. Bevor ich dann im Gelände verschwinde, grüßen wir uns noch einmal winkend. Nun kehrt wieder etwas Ruhe ein. Die langen Gespräche sind schon etwas anstrengend.

Jetzt, am frühen Morgen, treffe ich wieder Bauern, die in steilem Gelände ihre Felder von Hand bearbeiten. Diese Felder kann man nur zu Fuß oder mit dem Esel erreichen. Sie sind für die Bewirtschaftung mit Maschinen zu steil. Mein Weg führt auf dem Kamm zwischen zwei Bächen hinab ins Tal. Teilweise ist gar kein Weg mehr vorhanden. Die Erosion ist so stark, dass größere Teile des Geländes einfach ins Tal rutschen. Am Rande solcher Erdrutsche muss ich mir dann einen Weg durch das niedrige Buschwerk suchen. Dabei stoße ich immer wieder auf Schildkröten. Nie zuvor habe ich sie in der freien Natur gesehen.

Wie gestern sind auch heute die Wege aufgeweicht. An einer Stelle ist es sogar so matschig, dass ich fast im Schlamm stecken bleibe. Ein aus Heckengehölz geflochtener Zaun am Wegrand gibt mir ein wenig Halt. Erschrocken lasse ich den Zaun aber wieder los, als sich einer der unteren Äste bewegt und ganz schnell nach unten fällt: Eine kleine Schlange hat sich so gut im Geflecht getarnt, dass ich sie erst bemerke, als sie sich bewegt. Nach diesem Schreck achte ich nun etwas mehr auf den Zaun als auf den Weg. Dementsprechend sehen meine Hosenbeine aus, als ich dieses Wegestück hinter mir habe. Ich lasse den Schlamm erst trocknen und kratze ihn später mit dem Messer ab.

So ziehe ich langsam durch das albanische Hinterland. Lange Zeit sehe ich fast keinen Menschen. Ein junger Hirte liegt hinter einem Busch im Schatten. Ich sehe ihn nicht und wecke ihn mit meinem lauten Schritt. Er unterhält sich ein wenig mit mir. Er muss aber bei seinen Ziegen bleiben, die irgendwo in der Nähe das Buschwerk anknabbern.

Ich ziehe weiter. Die ungefähre Himmelsrichtung kann ich aus meiner Karte entnehmen. Mit Instinkt und Fantasie suche ich mir den Weg durch das Buschwerk. Dabei sind mir die natürlichen Hinterlassenschaften der Ziegen eine große Hilfe. Wo sie ihre kleine Bällchen liegen lassen, kann auch ich mich bewegen.

Das Buschwerk wird höher und ich mühe mich im Wald bergauf. Hier ist es fast wie Zuhause: Wald, Lichtungen, Gebüsch. Nur die Erosion, die an vielen Stellen nagt, ist mir in dieser Dimension fremd. Als ich oben ankomme sehe ich, dass auf der unteren Seite der Berg steiler abfällt. Ich suche mir eine Stelle, von der ich ins Tal schauen kann. In der Ferne liegt Tirana und der Dayti. Plötzlich bin ich wieder in besserer Laune. Das Tagesziel vor Augen schlendere ich vergnügt ins Tal. Viele Schildkröten sehe ich im lichten Wald. Und abrupt beginnt wieder die Zivilisation:  Ärmliche Häuser und schlechte Wege zeigen, dass ich in Albanien bin. An einer Stelle ist die Erosion besonders stark. Neben dem Weg läuft das Wasser in einem Graben in Fallrichtung bergab. Klar, dass das Wasser dabei mäandrieren will. Deshalb holt es sich immer etwas mehr vom Weg und vom Feld. Es ist abzusehen, wann der halbe Weg im Graben liegt. Es besteht aber keine Aussicht darauf, dass diese Zustände bald besser werden. Es fehlen einfach Geld und Maschinen, um diese Probleme in den Griff zu bekommen.

 In dieser Gegend haben die Bauern flachere Felder, so dass eine maschinelle Bewirtschaftung möglich ist. Doch nur sehr wenige können sich entsprechende Maschinen leisten. Verbreitet sind alte, chinesische Raupenfahrzeuge, mit denen der Pflug gezogen wird. Nur ganz selten sehe ich einen modernen Traktor.

Die Wirtschaftsgebäude sehen aus, als wären sie dem Verfall überlassen. Davor verbreitet sich der Müll der letzten Jahre. Reste importierter Waren von irgendwo her. Die Albaner machen die ersten Schritte zur Konsumgesellschaft. Von Entsorgung haben sie noch keine Ahnung. Und eigentlich haben Sie auch keine Möglichkeiten. Müllwagen müssen erst angeschafft werden. Woher soll das Geld kommen? Westliche Großkonzerne wollen in Albanien Geld verdienen, die Entsorgung des Wohlstandsmülls interessiert sie nicht. So gewöhnen sich die Albaner eben an den Müll.

Langsam komme ich Tirana näher. Ich sehe jetzt auch viele Baustellen. Später erfahre ich, dass fast alle Häuser ohne Genehmigung gebaut sind. Mit Hacke und Schaufel werden die Fundamente mühsam ausgehoben. Wenn der Rohbau erst einmal steht, wird er auch schon bezogen. Hauptsache ein Dach über dem Kopf. Die Wohnungen in der Stadt sind zu klein für die Familien.

Private Häuser sind schnell neu errichtet. Daneben stehen alte Gebäude, wie z.B. das Kombinat. Es ist völlig heruntergekommen. Hier und da sind ein paar Arbeiter zu sehen, die das Notwendigste in Stand setzen. Aber alles bleibt nur Flickwerk. Langsam kann ich die Hoffnungslosigkeit verstehen, in der sich so mancher Albaner befindet. Entsorgungsprobleme sind vorprogrammiert. Ich sehe, wie beschädigte Wasserleitungen offen über und zum Teil im Straßengraben verlaufen, in dem verschmutztes Regenwasser läuft. Oder sogar Abwasser? Unter diesen Umständen wäre es kein Wunder, wenn Krankheiten auftreten würden. Und es gibt wenig Aussicht auf Besserung.

Je weiter ich mich Richtung Zentrum bewege, desto mehr tritt aufkommender Wohlstand der Armut gegenüber. Viele Bunker sind wieder zu sehen. Wer eine gute Arbeit hat, kann sich ein neues Haus oder ein gebrauchtes Fahrzeug einer Nobelmarke leisten.

Es herrscht starker Verkehr auf dieser Einfallstraße nach Tirana. An der Werbeaufschrift auf den großen und kleinen Lastwagen ist zu erkennen, dass sie aus Deutschland sind. Was dort nicht mehr zu gebrauchen ist, wird hierher verkauft. Auf der Anzeigeteafel eines Autobusses steht noch ein Fahrtziel aus einer deutschen Großstadt. Tankstellen, neue Werkstätten und vor allem Betriebe für Baumaterial prägen das Bild. Dazwischen aber auch provisorische Buden. In und vor diesen werden Waren für den Alltag angeboten.

Mit kleinen Reparaturbetrieben werden die Inhaber sicher nicht reich.  Die Bauern auf dem Lande haben ja ihre Arbeit und ihr nötigstes Auskommen. Aber wer hier in der Stadt ohne Arbeit ist, ist ganz auf die Unterstützung der Familie oder Verwandtschaft angewiesen. Und Arbeit gibt es wenig. Die Arbeitslosigkeit liegt nach Schätzungen etwa bei 40 bis 50 %. Genaue Zahlen gibt es nicht. Trotzdem strahlen viele dieser Menschen Würde aus. Soweit es möglich ist, gibt man auf sein Äußeres Acht.

 Ich finde recht schnell zu Agims Schwester. Dabei komme ich an einem Hotel vorbei. Mich interessiert es, was hier eine Übernachtung kostet. Mit geschultertem Rucksack und staubigen Schuhen betrete ich das moderne Haus und frage nach dem Preis für eine Übernachtung. Es sollten 60 US$ sein. Fast so viel, wie ein Lehrer in Albanien in einem Monat verdient. Da bin ich froh, dass ich Freunde in Tirana habe und verabschiede mich freundlich von der Rezeption. 100 Meter weiter verlasse ich die Hauptstraße und sehe erstaunt, dass die Zufahrt zum Haus, in dem meine Freunde wohnen, frisch geschottert ist, wenigstens zum Teil. Direkt vor dem Haus stehen noch immer die Pfützen, die man bei schlechtem Wetter vorsichtig umgehen muss, wenn die Schuhe trocken bleiben sollen.

Am späten Nachmittag klingele ich an der Wohnungstüre. Ich hatte keine Uhrzeit genannt, als ich mich anmeldete. Meli ist schon von der Arbeit zurück und empfängt mich auf die bekannte, sehr herzliche Art und Weise. Ein paar wenige Worte zur Begrüßung kann ich nun schon auswendig. Deshalb meint sie ganz höflich, dass ich schon gut albanisch sprechen könne. Als ich im letzten Jahr bei ihnen war, konnte ich noch kein einziges Wort. Gleich hole ich wieder meinen Sprachführer aus dem Rucksack und versuche auf die übliche Art, meine Erlebnisse zu schildern: nachschlagen, notieren und dann vortragen. Melis freudige Augen geben mir den Mut, so weiterzumachen.

 Ich würde mich ja gerne erst einmal vom Staub der Wege und der Straße befreien, aber es gibt noch kein Wasser. Ich muss mich gedulden.

Die Wohnung ist klein und die Küche ist nur eine Ecke im Wohnzimmer. Deshalb kann Meli meinen langwierigen Erzählungen folgen, während sie das Essen vorbereitet. Ihr Mann Bujar und die Kinder Ida und Ari kommen auch bald. Ich fühle mich gleich wieder wohl bei ihnen. Nach einer warmen Dusche kann ich saubere Klamotten anziehen. Die spartanischen Zustände im Bad stören mich nicht. Die Dusche ist einfach ein Schlauch, der über dem Stehklo befestigt ist. Daneben die Waschmaschine und das Waschbecken mit dem Boiler. An der Wand steht ein Fahrrad und Aris Fußballschuhe liegen herum. Wichtigster Einrichtungsgegenstand in diesem Raum ist ein großer Kübel mit einem Wasservorrat, damit die menschlichen Bedürfnisse auch außerhalb der Wasserzeiten weggespült werden können.

Als das Essen dann fertig ist, kann ich mich für die Gastfreundschaft bedanken, indem ich ordentlich zugreife und Meli zeige, dass es mir schmeckt. In der Nacht darf ich in Idas Bett schlafen. Ida schläft bei Meli, Bujar kampiert im Wohnzimmer.

 Am nächsten Tag lege ich einen Ruhetag ein. Trotzdem ist um vier die Nacht vorbei. Ich will Bujar nach Skodra begleiten. Die Stadt liegt im Norden Albaniens, etwa 100 km von Tirana entfernt. Bujars Nichte muss dort die erste Prüfung ihres Jurastudiums ablegen. Die findet bereits früh um acht Uhr statt. Und da die albanischen Straßen nicht die besten sind, müssen wir sehr früh für die weite Fahrt aufbrechen. Auch ihr Vater fährt mit. Der kann neben seiner Muttersprache Albanisch auch Englisch reden und verstehen, die Nichte kann neben ihrem Albanisch zwar Deutsch verstehen, aber nur Englisch reden, Bujar kann nur Albanisch  und ich kann kein Albanisch, aber Englisch verstehen und Deutsch reden. Die Verständigung ist ein Durcheinander der drei Sprachen, aber trotzdem sehr gut. Ich lerne in den langen Stunden im Auto sehr viel über Albanien und auch das eine oder andere albanische Wort.

Während die Nichte bei der Prüfung ist, hat ihr Vater ein paar berufliche Gesprächstermine. Er ist im Schulministerium in Tirana zuständig für die Grundschulen in ganz Albanien und kennt hier in Skodra sehr viele Leute. Bujar und ich gehen unterdessen einen Tee trinken.

Auf der Rückfahrt machen wir in Lezha Halt und werfen einen kurzen Blick auf die Grabstätte des Nationalhelden Skanderbeg. Seine Gebeine liegen zwar nicht mehr hier, aber trotzdem ist der Ort fast heilig. Skanderbeg ist der große Held in der Geschichte Albaniens. Er gewann 1444 eine Schlacht gegen die Türken. Die Besetzung des Landes konnte er aber dennoch nicht verhindern.

Am Nachmittag sind wir wieder in Tirana und ich versuche, zu Hause anzurufen. Diese Möglichkeit gibt es fast nur in den großen Städten.

Meli und Bujar meinen, ich soll noch ein paar Tage in Tirana bleiben. Aber ich erkläre ihnen, dass ich zuerst meine Wanderung beenden will und dann wieder zu ihnen zurückkommen werde. So packe ich dann am Sonntag in der Frühe wieder meinen Rucksack. Allerdings ist er jetzt nicht mehr so schwer, denn Zelt und Schlafsack erwiesen sich als überflüssig. Ich lasse sie in Tirana zurück. Matte und Biwaksack müssen im Notfall reichen.

 Es scheint wieder ein sonniger Tag zu werden. Ich laufe entlang der Lana, die durch Tirana fließt. An ihren Ufern wurde während des letzen Jahres viel gebaut. In den neuen Cafes kann man zwar gemütlich sitzen und plaudern, doch an der Rückseite der kleinen Bauten muss die Lana leiden. Dort wird einfach Schutt abgeladen. 1995 sah es hier noch besser aus.

Nur wenige Menschen sind an diesem Sonntag so früh unterwegs. Die Pyramide und der Platz der Mutter Theresa wirken fast verlassen. Es ist interessant, an einem sonnigen Sonntagmorgen in einer fremden Stadt oder in einem fremden Land zu sein. Mancherorts herrscht große Stille, emsige Lauferei zur Kirche, gemütliche Erholung vom Werktag oder es wird auch gearbeitet. So wie an diesem Sonntag im Fußballstadion von Tirana. Es wird gänzlich umgebaut und ein neuer Rasen wird angelegt. Auch heute am Sonntag. Etwas weiter im Park ist es wieder angenehmer. Junge Leute gehen spazieren, alte sitzen beim Kartenspiel. Außerhalb der Stadt geht mein Blick über Wiesen und Bäume. Das tut gut. Friedlich liegt der moderne Teil Tiranas vor der Anhöhe im Süden. Beim Denkmal für die Mutter Albanien treffen sich heute Menschen, um der Opfer des Krieges zu gedenken. Sogar Premierminister Meksi ist anwesend und hat ein offenes Ohr für das Volk. Er will sicher vor der anstehenden Wahl noch einen guten Eindruck machen.

Ich lasse die große Stadt hinter mir. Fleißige Albaner arbeiten an ihrem neuen Häuschen und zwei Zeugen Jehovas versuchen, Passanten für ihre Sache zu gewinnen. Dann liegen große grüngelbe Wiesen mit Löwenzahn vor mir. Ich habe wieder meine Ruhe zum Wandern!

Inzwischen ist es später Vormittag, als ich wieder einmal nach einem Baum für eine Rast im Schatten suche. Viele Bäume gibt es in dieser Gegend nicht und ich bin froh, dass ich doch noch einen geeigneten finde. Nebenan arbeitet eine kleine Familie auf dem Feld. Und gleich bekomme ich Besuch. Zuerst kommt der Mann mit seinem Sohn, um mich zu begrüßen und dann auch die Frau und zwei weitere Kinder. Nach dem üblichen „Woher?“ - „Wohin?“ - „Warum?“ bieten auch diese Leute mir von ihrem Milchgetränk an, das sie irgendwo im Schatten halbwegs kühl halten. Es ist in dieser Hitze sehr erfrischend. Doch zu meinem Nickerchen komme ich nicht und so trabe ich nach etwa einer halben Stunde weiter.

Unterwegs treffe ich einen jungen Burschen, der seine Zeit mit einer selbst gebastelten Angel vertreibt. Aber was er in dem kleinen Bach fangen will, ist mir ein Rätsel.

Ich laufe Richtung Südost. Übermorgen will ich in Elbasan sein. Die Orientierung ist nicht so einfach. Auf meiner Karte im Maßstab 1:300.000 sind nur die wichtigsten Straßen und Flüsse verzeichnet. Die meisten Dörfer sind, wenn überhaupt, nur als Punkt in der Karte zu sehen, ohne Anbindung an die eingezeichneten Straßen. Die Überquerung eines großen Flusses ist für mich ein Hinweis auf meine Position.

Nach einer kleinen Rast, in der ich den Schatten der Bäume mit Ziegen teilen muss, stehe ich vor dem Tal des Erzen. Mein Ziel für heute sind die Felsen am Horizont des anderen Ufers. Na dann mal los! Den Weg hinab ins Tal teile ich wiederum mit Ziegen. Nur in einem Teil des Flussbettes fließt heute das Wasser. Im Frühjahr, nach der Schneeschmelze in den Bergen, rauscht hier ein reißender Strom. Eine Brücke kann ich nicht finden, auch keinen Steg, dafür ist das Flussbett zu breit. Als ich sehe, dass ein Polizist in Uniform mit seinen Schuhen in der Hand flussabwärts läuft, gehe ich auch in diese Richtung und finde tatsächlich ein paar Steine, die einen Weg durch das Wasser ans andere Ufer andeuten. Also Schuhe und Strümpfe raus, Hosenbeine hoch und durch. Es ist eine wackelige Angelegenheit, mit einem Rucksack durch das fließende Wasser zu waten. Drüben gönne ich mir wieder eine kurze Rast und ziehe mir ein paar frische Strümpfe an. Die alten wasche ich kurz durch und binde sie mir zum Trocknen an den Rucksack. Dann geht es bergan.

Es ist schon Nachmittag und ich mache mir Gedanken, wo ich heute Nacht schlafen kann. Ich weiß, dass jeder Albaner einem Fremden Unterschlupf gewährt. Aber ich traue mich nicht, einfach zu sagen: Hallo, hier bin ich, heute Nacht schlafe ich bei euch! Also trabe ich einfach weiter und warte, was kommt.

 Auf einer kleinen Straße erreiche ich die am Morgen angepeilten Felsen. Immer wieder kommen LKWs vorbei. Bergauf sind sie leer, bergab mit Schotter beladen. Irgendetwas muss es da oben also geben.

Es wird Abend und es fahren immer weniger LKWs vorbei. Ich sehe noch keine Häuser. Ich stelle mich schon seelisch darauf ein, dass ich nun doch ohne Zelt im Freien schlafen muss. Ich möchte mich aber nicht direkt neben die Straße legen. Deshalb verlasse ich die Straße und gehe einen Fußweg am Berg entlang. Plötzlich überholt mich forschen Schrittes ein junger Mann. Er spricht mich an mit den üblichen Fragen: „Woher" - "Wohin" - "Warum zu Fuß" - "Warum allein?“  Und bald kommt auch tatsächlich die Einladung in sein Haus. Ich tue noch so, als sei mir die Situation etwas peinlich, stimme aber nach ein paar gewechselten Worten zu.  Der Fußweg führt zu einem kleinen Dorf. Ziel des Mannes ist ein mit einer hohen Mauer umgebenes Haus. Es ist gar nicht so klein, aber eben ziemlich heruntergekommen. Die Leute haben kein Material für eine Renovierung. Die aufgeschlossene Ausstrahlung des jungen Mannes passt nach meinem Empfinden überhaupt nicht zu dem Zustand des Hauses.

Gleich werde ich ins Wohnzimmer bugsiert. Auf Teppichen und Kissen mache ich es mir so gut es geht gemütlich. Ich bin es nicht gewohnt, auf dem Boden zu sitzen. Sehr geduldig und interessiert versucht der junge Mann mit mir ein Gespräch zu führen. Das klappt so leidlich mit meinen Unterlagen, in die auch er sehr interessiert schaut und einzelne albanische Worte im Wörterbuch sucht. Auch seine Eltern kommen bald herein. Sie freuen sich, dass ein Gast da ist und die Mutter erledigt gleich die ersten Handgriffe, um etwas zum Essen zuzubereiten. Es stellt sich heraus, dass der junge Mann oben am Berg im Steinbruch arbeitet. Sein Vater ist der Ortsvorsteher dieses Dorfes.

Es ist schon dunkel, und nach dem Essen ist bald Nachtruhe angesagt. Die Gastgeber müssen morgens wieder früh raus. Das kommt mir natürlich entgegen. Ich bin müde und möchte morgen recht bald wieder auf den Weg. Mir wird bewusst, wie diese Menschen hier gefordert werden. Mit dem Auto kommt man nicht bis ins Dorf. Fast abgeschnitten von der Außenwelt müssen sie ihre Felder nur mit Hilfe von Pferd oder Esel bearbeiten. Kino oder Shopping ist für sie buchstäblich eine andere Welt. So ein Gast aus Deutschland ist etwas ganz Besonderes. Davon wird man in zehn Jahren noch sprechen. Das Dorf heißt Paskashesh.

Früh geht es am nächsten Morgen weiter. Nicht lange, da liegt wieder ein Fluss vor mir, den ich durchqueren muss. Es ist der Murrdharit. In aller Ruhe ziehe ich wieder Schuhe und Strümpfe aus und mit der gleichen Ruhe auf der anderen Seite wieder an. Ich habe Zeit, kein Termin drängt mich. Das tut gut. Gemütlich gehe ich weiter. Ich brauche meine Zeit, bis ich wieder meine Betriebstemperatur zum forschen Gehen habe. Am Feldesrand liegt ein Holzpflug der sicher bald wieder von zwei Ochsen durch die Erde gezogen wird. Grenzsteine zeigen, dass auch hier Streitigkeiten möglich sind. Und im nächsten Dorf wird ein neues Haus errichtet. Ich genieße die herrliche Landschaft und das satte Grün der Wiesen, das Braun der frisch gepflügten Felder und die ersten blühenden Bäume. Bald komme ich zu einer kleinen Straße, auf der aber nur die bekannten Karosscas fahren.

Wieder ein Fluss. Das Wasser des Zarankäs fließt nach Elbasan. Doch der Weg dahin ist noch weit und führt wieder über schlechte Wege ins Tal. Blühende Sträucher erinnern mich an Deutschland, an den Olivenbäumen erkenne ich aber, dass ich in einem südlichen Land bin. Mein Weg führt dieses Mal mehr über Steine als durch Wasser. Am anderen Ufer geht es dann steil nach oben. Der Blick zurück lässt mir die Brust schwellen: Ich habe schon eine ganz ordentliche Strecke zurückgelegt.

Der Weg führt durch Olivenhaine. Hinter der nächsten Biegung ist dann endlich Elbasan zu sehen. Zuerst das neuere Wohnviertel mit seinen Wohnblocks. Menschen kommen mit dem Bus aus dem Zentrum, Kinder spielen neben und auf der Straße. Ich bin müde. In einem kleinen Kiosk  kaufe ich mir eine Cola und ein paar Kekse. Ich suche nach einer Unterkunft. Vorbei am Uhrturm, dem Wahrzeichen der Stadt, schleppe ich mich zum Stadtrand. Alte Männer sitzen an der Stadtmauer beim Kartenspiel. Ich lande im Albtourist-Hotel Skampa. Das hat sicher auch schon bessere Zeiten gesehen. Oder doch nicht? Auf jeden Fall finde ich ein Bett und etwas zu essen.

Abends um sechs Uhr geht man in Albanien spazieren. Der Xhiro ist Tradition. Man trifft Nachbarn und Bekannte und tauscht die letzten Neuigkeiten aus.

Am nächsten Morgen ist wieder Trubel auf der Straße. Aber fast ohne Autos. Ich schleiche mich über eine Brücke auf die südliche Seite des Skumbin und suche wieder die Ruhe der ländlichen Seite Albaniens. Eine Hühnerfarm liegt noch unten im Tal. Die Felder hangeln sich schon bergwärts. Die Natur scheint im Süden schon etwas weiter zu sein. Vielleicht täusche ich mich auch. Auf jeden Fall genieße ich das Grün.

Langsam mühe ich mich auf dem steilen Weg den Berg hinauf. Es soll wohl eine Straße sein. Denn ab und zu quält sich ein kleiner Furgon nach oben. Lokale Furgone sind kleine Busse, die in der Regel früh in die Stadt und nachmittags wieder zurück in die Dörfer fahren.

Der Weg wird wieder flacher. Er zieht sich für mich aber ganz schön in die Länge. Plötzlich stehe ich vor einem wunderschönen Baum, in voller Blüte. Etwas daneben steht ein kleiner Grabstein. Später erfahre ich von der Sage, die um den über 400 Jahre alten Baum bei LLeshan rankt:

Ein kleines Kind hatte eine unbekannte Frucht verschluckt und wurde sehr krank. Als der Vater das Kind in die weit entfernte Stadt bringen wollte, starb es unterwegs. Der Vater begrub es gleich neben dem Weg. Die vom Kind verschluckte Frucht ging im Grab auf, es wurde ein Baum. Ein besonderer Baum. Keine Axt konnte ihn fällen, so hart war sein Stamm. Für die Menschen in dieser Gegend ist dieser Ahorn heilig.

Ich gehe etwas weiter, setze meinen Rucksack ab und klappe meinen Hocker auf. Ich mahle etwas Hafer und mache mir einen Brei mit Wasser und Milchpulver. Weiter unten sitzt ein Mädchen auf dem Boden. Es ist scheinbar multitaskingfähig: Während es seine Hausaufgaben macht, schaut es auch nach den Ziegen. Ich habe einen weiten Blick ins Tal des Devoll. In der Ferne liegt der Tomorr. Der Berg ist in Mitttelalbanien von fast überall zu sehen. Auch die markante Spitze des Lisecit ragt über die anderen Berge hinaus. Das ist meine Richtung für die nächsten Tage.

Als ich weiter gehe, versuche ich, die selten vorbeifahrenden Fahrzeuge gar nicht anzuschauen, damit ich nicht zum Mitfahren eingeladen werden kann. Ich will ja zu Fuß gehen. Auf lange Diskussionen, weshalb ich nicht mitfahren will, habe ich keine Lust. Wo aber die tägliche Arbeit auf dem Feld eine Plackerei ist, kann man wandernde Gesellen nicht ganz verstehen. Und als die ersten Berge im Abendschatten sind, lasse ich mich doch von einem kleinen Transporter ein paar Kilometer schaukeln.  Was wird transportiert? Säcke von Altkleidersammlungen(!) aus Deutschland. Irgendwo in der Nähe wohnen Nonnen, die sich um die Ärmsten der Gegend kümmern. Dort werden die Klamotten verteilt.

Irgendwie finde ich wieder eine Unterkunft für die nächste Nacht. Und wieder bei sehr netten Leuten, die mit harter Arbeit ihre bescheidenen Lebensumstände erhalten. Natürlich wird der Gast, so gut es geht, bewirtet. Es ist schon spät, die Unterhaltung heute kurz. Ich schlafe gut auf dem einfachen Nachtlager. Ich bin heute in Pashtresh. Verschämt biete ich am nächsten Morgen einen kleinen Obulus an, doch der wird abgelehnt. Ich mache ein Foto mit Butterfass, notiere mir die Anschrift und verspreche, das Bild später zu schicken.

Am nächsten Tag ist wieder strahlendes Wetter. Vom gegenüberliegenden Hang blicke ich zurück. In einem dieser Häuser war ich Gast. Der Tomorr mit seinen 2414 Metern ist eine gute Orientierung. Im bergigen Gelände laufe ich erst einmal entlang der kleinen Straße, auf der sich fast kein Auto verirrt. Esel oder Maultier sind die gängigen Transportmittel. In einer kleinen Bude am Wegrand  gibt es neben Kaffee, Keksen und Anderem auch etwas Musik.

Doch bald ist mir die langweilige Rennerei auf dem breiten Weg leid, ich versuche mein Glück wieder etwas abseits. Das bedeutet: In der Luftlinie den kürzeren Weg, dafür aber das steilere Gelände. Die schlechten Wege, Bäche und Flüsse ohne Brücken machen den Entfernungsvorteil wieder zunichte. Hier und da ist ein kleiner Steg vorhanden, an dem mein Weg vorbei, selten darüber führt. Oft gehe ich nur Spuren am steilen Hang hinterher. Und wenn ich meine, ich sei nun wirklich am Ende der Welt, tauchen irgendwo doch wieder Menschen auf. In der Karte sind die Dörfer nur als Punkte eingetragen, ohne eine Verbindung zwischen ihnen. Eine Hängebrücke überquert den Fluss Holtit. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass Fahrzeuge darüber fahren können. Über kleinere Bäche, in denen die Frauen die Wäsche waschen, führen abenteuerliche Stege. Auch hier in Holtas finde ich Unterschlupf bei über die Maßen freundlichen Menschen.

Früh geht es wieder weiter.

Der Lisecit ist ein sehr markanter  und weithin sichtbarer Berg, aber er ist noch nicht mein gestern angepeiltes Ziel. Auch hier in den kleinen, schwer zugänglichen Dörfern sehe ich Schulen für die Kinder. Mein Ziel, der Vallamräs, ist nun schon sehr nah. An seinem Hang soll im letzen Winter ein amerikanisches Militärflugzeug zerschellt sein. Ich wandere ganz gemütlich durch die Berge Mittelalbaniens. Den neugierigen Blicken von kleinen Zicklein kann ich nicht ausweichen. Es ist schönes Wetter, die Landschaft herrlich, und die Leute freundlich. Was will ich mehr.

Selbst in dieser Abgeschiedenheit sind die Häuser mit Strom versorgt. Die Strommasten führen über krumme Holzstangen oder kleine Bäume. Die Umsetzer sind hingegen stabil aus Steinen errichtet. Ich komme an einer Schule vorbei. Wie überall freuen sich auch hier die Schüler über die Pause.

Der Esel ist ein wichtiges Fortbewegungsmittel. Er kommt zwischen den Steinen in dem ausgetrockneten Flussbett und auch auf den steilen, unebenen Wegen gut zurecht. Selbst mit einer geländegängigen Enduro wäre man hier kaum schneller. Und wenn es für fünf Personen nur einen Esel gibt, muss der Rest der Familie zu Fuß gehen. Die Dörfer am Hang sehen recht idyllisch aus. Wie lebt es sich hier im Winter? Heute genieße ich den Frühling und wandere ohne Hast vorbei an Häusern und Gärten auf manchmal auch sehr steinigem Weg. Auch dieser Tag neigt sich dem Ende. Kinder, Schafe und Kühe teilen sich noch den Sportplatz, bis die Sonne im Westen verschwindet. An diesem Abend bin ich in Lenie und wieder einmal auf der Suche nach einem Nachtlager. Wie bereits gesagt: In den ländlichen Gegenden Albaniens schläft niemand im Freien. So  bekomme ich irgendwie wieder Kontakt und somit eine Schlafstätte.

Am Morgen mache ich das fast schon obligatorische Erinnerungsfoto. Die ganze Familie und auch die Nachbarn winken mir nach. Hinter dem Lisecit  kommt schon wieder die Sonne hervor. Auch der neue Tag bringt wieder viele Erlebnisse. Die Esel, die mir entgegen kommen, haben meistens ein größeres Päckchen zu tragen als ich. Sie können ihren Weg nicht wählen. Ich  hingegen kann die Richtung meiner Beine selbst bestimmen.

 Vorbei an Bicaj geht mein Weg über die südliche Flanke des Vallamräs. Noch ein letzter Anstieg, dann kann ich über das Tal des Devoll hinweg auf den Ostrovice sehen. Das erste Dorf hinter der Flanke liegt am Südhang hoch über dem Devoll. Auch hier sind die Wege nicht besser. Dafür geben die Bienen auf den saftigen Wiesen sicher einen vorzüglichen Honig. Bald kann ich bequem hoch über dem Tal nach Osten gehen. Ich muss mir in der Ferne einen neuen Anhaltspunkt suchen. Schafe am Wegesrand betrachten mich skeptisch.

Mein Ziel ist Voskopoje, kurz vor Korca. Dazu muss ich ins Tal hinab und den Fluss Devoll überqueren. Leicht gesagt! Nach rechts geht es steil hinab und nach vorne ist der Berg weggerutscht. Das Dorf Gopesh auf der anderen Seite ist greifbar nahe. Also folge ich wieder den schmalen Pfaden quer zum Hang. Die Mühe scheint sich gelohnt zu haben: Dort ist ein Weg. Aber davor noch eine weitere Erosionsschlucht. Nachdem ich diese hinter mir habe bekomme ich beim Blick zurück im Nachhinein noch Gänsehaut. Doch stolz betrachte ich die zurückgelegte Strecke. Der Abstieg ins Tal ist dann eher ein Spaziergang.

Den Devoll überschreite ich über eine Hängebrücke. Am nördlichen Ufer sehe ich einen der wenigen Furgone das Tal hinauffahren. Er fährt nach Korca. Während ich am südlichen Ufer laufe und in ein seitliches Tal einbiege, höre ich ganz deutlich, wie jemand mit Steinen wirft. Hier in dieser verlassenen Gegend? Dann sehe ich, wie ein Mann auf einem Weg die größeren Steine zur Seite räumt. Der Weg führt vom Berg ins Tal. Die Erschließung des Geländes von oben scheint einfacher, da keine Brücken gebaut werden müssen, die während der Schneeschmelze im Frühjahr zerstört werden können. Das bedeutet, dass es oben auf der Höhe auch eine Wegverbindung nach Korca geben muss.

Ich schätze die Richtung nach Voskopoje. Irgendeines der Dörfer, die auf der Karte eingetragen sind, werde ich hoffentlich erreichen. Ich gehe im trockenen Teil des Flussbettes des Cermenike. Auf der nördlichen Seite sehe ich, wie mehrere Leute am Hang laufen. Schon von Weitem ist zu erkennen, dass der Weg durch Erdrutsche gefährdet ist. Und tatsächlich beobachte ich, wie eine Gerölllawine abgeht. Ich sehe auch, wie ein Mann sich gerade noch durch schnelles Weiterklettern rettet. Also habe ich mit der Wahl meines Weges mal wieder einen richtigen Riecher gehabt. Doch der Weg, den ich nun gehe, führt immer weiter in den Berg. Reste einer verlassenen Mühle sind alles was ich antreffe. Eine Stromleitung führt in das Tal hinein. Aber von einem der Dörfer ist weit und breit nichts zu sehen. Was tun? Der Weg zurück bringt mich vor der Dunkelheit auch nicht mehr in ein anderes Dorf. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich in dem engen Tal noch bewohnte Häuser finde. Wenn keine Häuser da sind, ist wohl auch kein "Schlawiner" in der Nähe! Ich beginne, die Landschaft nach einem möglichen Nachtlager abzusuchen. Ich gelange zu einem Steg über den Fluß und schöpfe Hoffnung: Wo ein Steg ist sind sicher auch Menschen. Ich balanciere auf die andere Seite. Dann sehe ich in der Dämmerung ein Gebäude. Also doch ein Dorf? Nein, es ist nur ein einzelnes Gebäude: ein kleines wasserbetriebenes Elektrizitätswerk! Obwohl ich eigentlich erwarte, dass das Gebäude verschlossen ist, greife ich trotzdem zum Knauf. Die Tür ist offen. Ich gehe hinein. Ohrenbetäubender Lärm empfängt mich. Ein Mechaniker arbeitet an einer Turbine. Als ich ihn kurz grüße, reagiert er kaum. Für ihn scheint es wohl selbstverständlich zu sein, dass hier wandernde Gesellen aus Deutschland auftauchen. Und im Gegensatz zu meinen bisherigen Kontakten mit den Albanern scheint er auch kein näheres Interesse an mir zu haben und arbeitet weiter. Da es drinnen sehr laut ist, gehe ich wieder nach draußen. Ich mache es mir auf dem wenigen Gras neben dem Gebäude gemütlich, so gut es eben geht. Nach der Aufregung wird natürlich erst einmal etwas gegessen. Dann richte ich meine Matte und meinen Biwaksack her. Ich hoffe, dass ich trotz des Lärms, den die Turbine macht, schlafen kann. Aber nicht der Lärm hindert  mich daran, sondern die Mücken. Ich kann einfach nicht einschlafen, obwohl ich sehr müde bin. Ich entschließe mich daher, den Mechaniker zu fragen, ob ich mich drinnen auf den Boden legen darf. Der würde sicher sehr hart sein, aber besser als gar nicht schlafen. Der Mechaniker ist nun etwas gesprächiger und bietet mir sogar seine Pritsche an. Die Nacht scheint gerettet. Aber es ist warm und sehr laut, sodass ich trotz der guten Liegestatt nicht recht schlafen kann. Der Mechaniker hat fast die ganze Nacht zu tun und ruht nur ab und zu ein wenig auf einem Stuhl aus.

Als es hell wird, packe ich meine Sachen zusammen und will mich wieder auf den Weg machen, als der Mechaniker mir zu verstehen gibt, dass ich warten soll. Er räumt ein wenig auf und schließt das Gebäude ab. Hier draußen kann man sich schon besser unterhalten und er sagt mir, dass seine Ablösung bald kommen würde und er lädt mich zum Frühstück zu sich nach Hause ein. In dieser verlassenen Gegend würde niemandem einfallen so eine Einladung abzuschlagen. So gehen wir ein Stück das Tal auf unserer Seite wieder hinunter und dann  steil den Berg hinauf. Er trägt sogar meinen Rucksack ein Stück, meint dann aber voll Anerkennung, dass dieser doch zu schwer für ihn sei. Dafür drosseln wir dann das Tempo ein wenig. Ich staune nicht schlecht, als wir dann zu seinem Haus kommen: In dieser verlassenen Gegend hat dieses Bauernhaus eine große Sattelitenschüssel vor der Türe! Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Das Frühstück ist gleich gerichtet und die ganze Familie bestaunt mich, als wäre ich von einem anderen Stern. Dabei läuft gerade in der Glotze eine Sendung über die Schweiz, in der zu sehen ist, wie irgendwelche Verrückten auf Fahrrädern eine steile Skipiste hinab jagen. Und ich lasse mir hier in Albanien Bauernbrot, Käse, Honig und Joghurt  schmecken!

Der Mechaniker ist nun genauso neugierig und wissbegierig wie alle anderen Albaner bisher auch. Nun hat er Zeit. Es stellt sich heraus, dass einer seiner Brüder in Italien lebt und die Familie unterstützt. Die Satellitenschüssel wurde per Esel zum Haus transportiert und Strom hat er ja direkt vor dem Haus. Er kann also die ganze Welt aus seinem Wohnzimmer sehen. Aber einen leibhaftigen Mitteleuropäer hatte er noch nicht zu Besuch. Die Konversation läuft dann doch bald besser als bei meinen bisherigen Gastgebern. Und ich muss auch von meinem Haus berichten. Als ich ihnen klar mache, dass ich kein eigenes Haus habe, sondern jeden Monat Miete für die Wohnung zahlen muss, haben sie etwas Mitleid mit mir und drängen mich, noch etwas vom Brot und vom Käse zu nehmen.

Aber auch dieses gastfreundliche Haus muss ich wieder verlassen. Nach dem obligatorischen Familienfoto erklärt mir der Mechaniker noch, wie ich in Richtung Voskopoje weiter gehen muss. Frisch gestärkt trabe ich los.

Recht zweifelhaft betrachte ich die nächste Brücke und taste mich dann langsam über sie hinweg. Die Einheimischen schaffen das ja auch mit Esel und Satellitenschüssel, dann trägt sie mich wohl auch mit Rucksack. Doch ich komme nicht weit. Beim nächsten Hof lässt mich der Bauer nicht mehr weiter, da es inzwischen angefangen hat zu regnen. Seine Frau zieht noch schnell die Kuh in den Stall, dann bereitet sie den Tee, während wir es uns im Wohnzimmer gemütlich machen. Die Schwiegertochter heizt zuvor noch extra ein. Die Unterhaltung ist hier nicht so ergiebig, da die Schulbildung des über achtzig Jahre alten Mannes natürlich nicht dieselbe ist wie die des Mechanikers von heute Morgen. Als es aufhört zu regnen, lässt er es sich nicht nehmen, mich bis zum Ende seines Dorfes zu begleiten und mir nachzuschauen, dass ich auch ja den richtigen Weg finde.

Und ab geht es wieder in die Berge. Ich übersteige den vor mir liegenden steilen Bergkamm. Eine wunderbare Landschaft tut sich vor mir auf. Ich blicke zurück ins Tal. Ein Schafhaus, Reste einer Kirche und einer Festungsanlage sind zu sehen. Die sind sicher in keinem der wenigen Reisebücher über Albanien erwähnt. Eine Kirchenruine hier in den Bergen Mittelalbaniens? Was spielte sich hier alles schon alles ab? Wenn ich mehr Zeit hätte und besser albanisch reden könnte, würde ich gerne die Einheimischen darüber befragen. So bleibt es für mich eine geheimnisvolle Ecke unseres Erdballs. Ich verlasse das lauschige Plätzchen und trabe langsam weiter durch den Wald den Berg hinauf. Der Regen wird zu Nebel und ich genieße es, in meinem selbstgenähten Regenponcho trocken zu bleiben.

Irgendwann erreiche ich Voskopoje  und bin enttäuscht. Voskopoje wird als Erholungsort angepriesen, aber sieht kaum danach aus. Das Klima scheint alles zu sein, womit man sich hier erholen kann. Ich laufe im Ort herum, um ein Zimmer zu finden, aber so etwas gibt es hier anscheinend nicht.  Also läuft es wieder auf private Gastfreundschaft hinaus. Ich suche mir einen Hof aus, dessen Eigentümer wohl nicht zu den ärmsten gehört und versuche mein Glück. Es scheint niemand da zu sein. Als ich wieder gehen will, kommt aus einem Nebengebäude eine alte Frau heraus. Mit ihr kann ich mich fast nicht verständigen. Sie drängt mich in ihr Häuschen. Das scheint so etwas wie ein Altenteil zu sein. Und das bedeutet einfachste Ausstattung. Der Herd hat sicher ebensoviele Jahre auf dem Buckel wie die alte Frau. Aber auf ihm lässt sich Wasser für den Tee kochen. Drinnen ist es kalt. Die Frau kennt es sicherlich nicht anders. Selbstgestricktes hängt zum Trocknen. Vermutlich von den Enkeln.

Nach wohl einer Stunde mit Tee und wenig Unterhaltung kommen die Bauersleute. Ich mache ihnen deutlich, in welcher Lage ich bin und dass ich eine Unterkunft für die Nacht suche, ich würde auch dafür bezahlen. Letzteres überhört der Bauer und lässt mich gleich eintreten. Das Innere des Hauses lässt dann den Stand der Familie erkennen: Es sind keine armen Schlucker. Nach dem Essen darf ich sogar in einem richtigen Gästezimmer in einem Bett schlafen. Ob wohl die Alte in diesem Haus schon einmal geschlafen hat? Wie vermutet darf ich auch hier für Unterkunft und Verpflegung nichts zurücklassen.

Am Morgen regnet es. Es ist kein Wetter zum Wandern. Ich gehe in den Ort und fahre mit dem nächsten Bus nach Korca. Ich habe die letzten Tage etwas getrödelt und will ja noch weiter nach Dardhe. Das liegt östlich von Korca, fast an der griechischen Grenze.

Korca ist kaum zu vergleichen mit den anderen großen Städten in Albanien. Die Stadt ist sauber und an der Bausubstanz ist zu sehen, dass sie einmal bessere Zeiten gesehen hat. Der Verfall der Substanz ist auch an Treppen zu beobachten. Manche am Haus verfallen. Die alten in der Altstadt halten mehr aus. Die Treppen zu einem Ehrenmal werden von der Natur zurückerobert. Unkraut macht sich auf ihnen breit. Und über den Dächern der Stadt schwebt der Versuch von Industrialisierung und Fortschritt.

Da ich heute bisher nur Bus gefahren bin, verlasse ich die Stadt schon früh am Nachmittag. Ein Stück muss ich an der Hauptstraße entlang marschieren, bis ich zur Abzweigung nach Dardhe komme. Vor dem nächsten Ort begegnet mir noch ein Bus. Aber dann sehe ich kaum noch ein motorisiertes Fahrzeug. Oben auf der Passhöhe regnet es. Im ganzen Land ist die Erosion ein großes Problem. Das Wasser ist fast nicht zu bändigen. Entsprechend sehen die Wege aus. Die Straße nach Dardhe sieht schon arg mitgenommen aus. Ein Bauer begegnet mir mit seinem Pferd. Es muss Holz aus den Bergen schleppen.

Das Wetter ist wechselhaft. Mal ist der Himmel blau, mal ziehen Wolken auf. Ein Salamander quert die Straße.

Auf dem Weg nach oben treffe ich einen älteren Mann, der mit einer Plastiktüte in der Hand unterwegs ist. Ganz selbstverständlich grüßt er mich und wir kommen ins Gespräch - soweit es meine Sprachkenntnisse zulassen. Er ist vier Stunden unterwegs in die Stadt, um seine Schwester zu besuchen. Am selben Tag läuft er dann wieder vier Stunden zurück in sein Dorf. Wieder komme ich mir vor als sei ich auf einem anderen Planeten. Zeit hat für diesen Menschen eine ganz andere Bedeutung als für uns hektischen Mitteleuropäer.

Der Regen lässt nach. Die Luft wird klar und der Frühling zeigt wieder seine Schönheiten. Wo Kühe grasen, sind auch Menschen nicht weit. Dardhe ist nicht groß. Bald habe ich eine nette kleine Unterkunft gefunden. Da sich hierher auch manchmal ein paar Urlauber verirren, gibt es auch ein Gästehaus in einem parkähnlichen Garten. Ein älteres Ehepaar hat geschmackvoll ein paar Zimmer eingerichtet. Ich schlafe in dem ruhigen Haus tief und fest.

Am nächsten Morgen bestaune ich weitere Häuser im Ort. Der Weg ins Tal ist angenehm zu laufen. Überall macht sich eine Frühlingsstimmung breit. Ein Huhn sucht einen warmen Platz und setzt sich in einem gemauerten Backofen in der Sonne.

Ich stelle fest, dass ich gestern mit dem Überqueren des Berges wohl auch eine Kulturgrenze überschritten habe. Ab hier haben die Menschen und die Häuser ganz deutlich einen leicht griechischen Einschlag. Und auch hier ist der Esel der Dumme. Nur manchmal übernimmt ein Maultier diese Rolle.

Am Bach sehe ich Schüler beim Sportunterricht. Auffallend viele Frauen arbeiten auf den Feldern. Das Tal wird breiter.

Irgendwo muss ich nun noch einmal nächtigen. In Fitore komme ich bei einer netten Familie unter und genieße wieder große Gastfreundschaft. Ein Bild von der Familie und das Versprechen, es ihnen später auch zu schicken, ist alles, was ich geben darf.

Ich will am nächsten Tag noch nach Bilisht laufen. Aber im strömenden Regen kann ich einem Autofahrer nicht abschlagen, dass er mich zum nächsten Bus Richtung Korca bringt. Ich habe noch ein paar Tage Zeit. Die Rückfahrt nach Tirana eilt nicht. Deshalb beschließe ich, einen Umweg durch Südalbanien zu machen.

 

Noch am selben Tag fahre ich mit dem Bus von Korca nach Erseke, eine bedeutungslose Anhäufung von Plattenbauten. Gegen ein paar Lek überlässt man mir für eine Nacht das Kinderzimmer in einem Haus neben einer Tankstelle. Ohne unnötige Verzögerung geht es am nächsten Tag weiter. Das Wetter ist trübe, die Ortschaften sind nichtssagend, die Landschaft ist grandios. Am Mittag erreiche ich Girokaster.

 Ich bin völlig unbedarft, was die Geschichte dieser Stadt betrifft. Ich weiß nur, dass es die Stadt des albanischen Schriftstellers Ismail Kadare ist. Als ich ankomme sind anscheinend alle hier aus einem besonderen Grund auf den Füßen. An bestimmten Häusern stehen Menschenschlangen, aber nichts wird gekauft. Des Rätsels Lösung: Es gibt heute Visa für Griechenland. Und die sind heiß begehrt.

Ich schlendere ein wenig durch die Stadt und bewundere die Häuser und die gepflasterten Straßen. Es wäre sicher interessant, etwas mehr über die Stadt und ihre Architektur zu erfahren. Neben gelungenen Renovierungen droht auch der Verfall.

Ich fahre am selben Tag noch ans Meer: in die Hafenstadt Saranda. Hier meine ich, in Griechenland zu sein. Ich finde ein schönes Zimmer und blicke über das Meer nach Korfu. Dort drüben, 5 Kilometer übers Wasser, ist eine andere Welt, die durch eine theoretische Linie im Meer – Grenze genannt – von Albanien getrennt ist. Es gab Zeiten, da war diese Linie nicht so schwer zu überwinden. Die Ruinen von Butrint legen Zeugnis dafür ab.

Nordwärts zurück nach Tirana will ich unbedingt entlang der Mittelmeerküste fahren. Da auf dieser kleinen Straße aber keine Busse fahren können, gönne ich mir den Luxus eines Taxis. Die Fahrt auf der schlechten Straße ist zwar anstrengend, aber die Landschaft dafür traumhaft schön. Kleine und große Strände wechseln sich ab. Hinter dem Llogara-Pass ist dann alles vorbei. Über Vlore, Fier, Lushnje, Kavaje und Durres geht es zurück nach Tirana.

 

Meli und Bujar freuen sich, dass ich wieder gesund zurück bin. Und sie staunen nicht schlecht, als ich mich mit ihnen halbwegs auf Albanisch unterhalten kann, natürlich noch mit dem Wörterbuch auf dem Tisch.

Einen Tag streune ich noch durch Tirana. Das Zentrum ist noch nicht mit Autos vollgestopft. Der Nationalheld Skanderbeg überragt alles von seinem Sockel. In den Seitenstraßen muss ich gut aufpassen, damit ich nicht in einem offenen Kabelschacht verschwinde.  An manchen Stellen gibt es noch Polizeikontrollen, z.B. in der Nähe der deutschen Botschaft. Denn dort ist der Andrang auf ein Visum fast so groß wie in Girokaster vor der griechischen Botschaft. Dabei wird mit ein paar Scheinen so Manches möglich.Zum Schluss schaue mir noch die alte Moschee von innen an.

 

Am Tag darauf endet das Abenteuer. Nach einem kurzen Flug bin ich wieder zurück in Deutschland und habe  ein paar Bilder im Rucksack, die Erinnerung an schöne Landschaften und nette Menschen. Zwei Wochen war ich unterwegs. Es war eines meiner schönsten Abenteuer.

 

Inzwischen sind 15 Jahre vergangen. Oft habe ich angefangen, diese Erlebnisse niederzuschreiben, aber erst im Jahr 2011 kam ich zu einem Ende. Bei der Lektüre muss immer bedacht werden, dass es Erlebnisse aus dem Jahre 1996 sind.

                                         

2006 habe ich mit meinem Freund Agim verschiedene Menschen und Orte wieder aufgesucht. In diesen zehn Jahren hat es zum Teil gewaltige Veränderungen gegeben. Und das ist nun auch schon wieder fünf Jahre her. Vielleicht kann ich das Land und ein paar dieser freundlichen Menschen einmal wieder besuchen.

 

Informationen über das Reiseland Albanien

gibt es im Reiseführer

 Albanien - Auf den Spuren Skanderbegs

 von Renate Ndarurinze

 erschienen im Trescher Verlag